Ursula zieht um

 

Einen alten Baum verpflanzt man nicht, heißt es. Bin ich ein Baum?, fragt sich Ursula. Wirklich nicht, und wenn, dann eine Linde. Und alt, naja, älter bin ich schon. Es ist die Zeit, die vergeht und eine alt werden lässt. Von außen wenigstens. Innen ist man immer sich selber.

 

Ursula wohnt in Schwabing, seit dreissig Jahren in derselben Altbauwohnung. In ihrer Straße stehen sich die aneinandergebauten fünfstöckigen Gründerzeithäuser nah gegenüber. Ursula sieht nur eine Handbreit Himmel von ihrem Arbeitsplatz aus. Das Hausdach visavis ist von Tauben eingesaut, grüngrau sind die Ziegel. Raus hier, nur weg, auch vor der nächsten Mieterhöhung, denn das Viertel um den Elisabethmarkt wandelt sich für das neue Klientel. Man nennt es die DINKs: double income, no kids. Sie sprechen hochdeutsch und machen München teuer. Wenig ist geblieben, was Usula heimatlich war: Der Käsladen hat aufgegeben, ebenso ein Bäcker, der Gasthof zur Post wurde durch ein griechisches Schickimicki-Lokal ersetzt, Buchläden wurden zu Optikergeschäften; wie viele Brillen braucht der Mensch? 

 

Eines Tages steht Ursula im Tschibo, dem Kaffee-Ausschank an der Leopold/Ecke Hohenzollernstraße, wer kommt da rein? Geraldine, das Fröschlein, eine Freundin von früher. Ursula kennt sie aus ihrer Studentinnenzeit. Geraldine ist zurück in ihre Heimatstadt gezogen. Aber heute ist sie zum Einkaufen in München und sucht sich nun einen Patz an einem der Stehtische im Tschibo.

Ursula quakt sie fröhlich an: „Ja, Fröschlein, du lebst noch!“ Geraldine hat ein paar Falten mehr im Gesicht und ist ein wenig breiter geworden. Gekleidet ist sie immer noch auf ihre ländlich dezente Art und trägt dasselbe Parfüm: Chanell Nummer fünf. 

„Du lebst aber auch noch“, stellt Geraldine erfreut fest. „Wie geht’s?“

„Passt schon! Ich bin, hör zu!“ –

Aber Geraldine will es jetzt so genau gar nicht wissen. Sie möchte sich dazu irgendwo hinsetzen, langes Stehen verträgt sie nicht mehr. „Hast du Zeit?“ Ursula nickt. „Gehen wir in den Weinbauern“, schlägt Geraldine vor, die früher gerne mit ihrer Clique dort hingegangen war. Die Wände waren braun gebeizt vom Zigarettenrauch. Man sah die Wirtin mit dem vertraut grantigen Gesicht hinter der Durchreiche am Herd stehen. Sie löschte unter Getöse die gebratenen Leber- oder Nierenscheiberl in der Pfanne mit einem Schuss Essig ab. Der Stammtisch davor wurde eingedampft, die Kartler regelrecht gebeizt. Anni, die alte Bedienung, fragte die Studenten: „Magst a Suppn, Schneckerl?“ Zum Mittagessen gehörte ein Teller Suppe, eine abgebrannte Griessuppe zum Beispiel, die aber wenige schätzten. Die war dann kostenlos. Ursula kannte einen, der ernährte sich drei Semester lang von Annis Suppen und dem ebenfalls kostenlosen süßen Senf, den er mit drei Semmeln aus dem Steinguttöpfchen austauchte. Zahlen tat er nur seine Semmeln. 

„Der Weinbauer passt nicht mehr“, sagt Ursula, „die Wände sind weiß, alles ist renoviert. Die neuen Wirte kochen gehoben bairisch und drucken es auch so auf die Speisekarte, zum Beispiel: ‚Auf’gschmoizene Brotsuppn mit an frischn Schnittlauch ausm Gartn.’ Ja, woher denn sonst?“ Sie hatte damals den Hahnhof vorgezogen, der weiter oben Richtung Siegestor, an der Leopoldstraße gelegen war. Dort bekam man eine Bohnensuppe, in der ein paar Fetzerl Geräuchertes drin waren, das gute Pfister-Brot dazu war kostenlos und das Publikum ein wenig gepflegter als das im Weinbauern. „Den Hahnhof gibt’s auch schon lange nicht mehr“, erklärt sie dem Fröschlein. „Komm, wir gehen zur Seidl Villa rüber. Die haben wir in den 80ern vor dem Abriss gerettet, weiß du noch? Danach hat sich die Polizei das Gebäude unter den Nagel gerissen. Aber wir haben protestiert und nach drei Jahren haben wir sie endlich gekriegt. Und mit Kultur belebt, inzwischen machen das die Jungen. Ach ja, lang ist’s her.“ Sie gehen die paar Schritte und betreten den Garten durch ein schönes, schmiedeeisernes Tor. Blumen blühen in der Anlage, von einem Birnbaum beschattet glänzen Goldfische in einem kleinen Teich. Hinter der Villa neben den Radlständern liegt ein Gemüsegarten, von der Hausmeisterin gepflegt. „So schön“, seuftzt Ursula, „so würde ich gerne wohnen.“ 

„So schön könntest du wohnen“, sagt Geraldine, „und zwar bei mir.“

 

Ursula zögert zuerst, aber eigentlich ist sie froh, sich verändern zu können. Drei Jahrzehnte Schwabing sind mehr als genug. Sie hatte selbständig als Mode-Desingerin gearbeitet. Ihre ‚Satori-Mode’ war schlicht und zeitlos, klare Entwürfe im Kimonostil mit edlen Materialien. Dafür gab es nach wie vor Interessenten. Ursula hatte auch eine Phase gehabt, in der sie Textilkunst machte, ausgefallene Gehänge für die Räume der großstädtischen Avantgarde. Aber sie ist es leid. Ursula ist in das Alter gekommen, in dem man ans Aufhören denkt und hatte, vernünftig und sparsam wie sie war, gut vorgesorgt. Nun sehnt sie sich nach einem neuen Leben. Deshalb kommt ihr das Wiedersehen mit Geraldine, dem Fröschlein, wie gerufen. Ursula überlegt eine Zeit lang hin und her. Sie sammelt all ihren Mut, das alte, gewohnte, aber abgewohnte Nest zu verlassen. Dann setzt sich in den Zug und fährt in die Stadt, die ihr eine neue Heimat werden soll.  Sie besucht Geraldine in deren Haus, das in einem weitläufigen Garten liegt. Ja, fast wie die Seidlvilla und ebenfalls im Renaissance-Wiederholungsstil.

 

Hat Ursula denn keinen Anhang, keine Bindungen, die sie in München halten? Kinder hat sie keine, und ein Mann ist auch nicht mehr da. Sie lebt wie eine Freifrau. Nur den Schwestern und einigen Freundinnen wird sie abgehen. Aber für was gibt’s Telefon und den Zug, um sich hie und da zu besuchen. Sonst noch Fragen? Sie wird auch keinen Mieterverein mehr nötig haben gegen den Ruach des Hausbesitzers. Die Miete wird nur noch die Hälfte kosten. Wie schön vormittags der Standlmarkt in der Altstadt ist und was für ein Genuss, Gemüse und Obst so preiswert einkaufen zu können. Ursula muss viel weniger ausgeben wie bei den G'schupften vom Elisabethmarkt. Am Biostandl an der Theatergasse verkauft eine, die Ursula gleich gut gefällt. Und schon ist der erste Faden geknüpf. Das Netzt wird immer dichter werden. Und überhaupts, wie man hier redet: bairisch, ganz selbstverständlich. Ursula fühlt sich angenommen und wird nicht so angeschaut als sei sie auf der Brennsuppe daher geschwommen. Sie beherrscht auch das Hochdeutsche, wenn sie sich Mühe gibt. Fast so gut wie das Englische in New York, wo sie in ihrer Jugend eine Zeit lang gelebt hat, bevor sie das Heimweh erwischte, zuerst das nach der eigenen Sprache, dann nach dem Geruch der Isar, wenn das Wasser im Frühling seine eisige Kälte verliert und der Wind, das linde Lüfterl, wieder weht. Da ist der Hudson River kein Ersatz, forget it! 

Obwohl, New York. Das hätte schon was werden können auf Dauer. Damals gab es diese überlangen Damenzigaretten, für die überall Werbung gemacht wurde. "You have come a long way, Baby!", war in der U-Bahn, in der Lexington-Line, zu lesen. Yes, Sir, dachte Ursula, I’ve come a long way. Und die Damen der Auskunft sagten zu ihr: „You are welcome!" , wenn sie sich bei ihnen für eine Telefonnummer bedankte. Ja, da hätte sie hineinwachsen können, New York wäre ihr eine Heimat geworden, beruflich jedenfalls, wenn nicht der Mann, der dazu gehörte, bei ihrer Ankunft im Kennedy-Airport, seine Arme hätte hängen lassen. In diese weit geöffneten Arme wäre sie gerne in Zeitlupe hineingeflogen wie im Film. Er hatte sich aber anderweitig verliebt. Tja, da war es gelaufen, das mit der Heimat in Amerika. 

 

Aber hier, in der niederbayrischen Hauptstadt stimmt alles auf den ersten Blick. Der zweite betrifft die Beziehungskiste der Freundinnen. Die kracht bald auseinander. Das kann passieren. Ursula sucht neue Bekanntschaften. Sie geht in den Postsport-Turnverein, wo sie viele Frauen kennen lernt. In der Bücherei ist sie gleich heimisch. Es gibt auch eine mütterliche Freundin, die sich um Ursula kümmert und ihr ihr den Kontakt zu einer türkischenstämmigen Familie verschafft. Da gibt’s kleine Kinder zum Freuen und zum Helfen beim Hausaufgabenmachen. Die Würstl-Susi in der Altstadt ist ein Treffpunkt, genau wie der Hahn, eine Kneipe mit Kino. Von einer Genossenschaft bekommt Ursula eine günstige Wohnung, die an einem Bächlein liegt. Dort steht eine alte Linde, die wird leider abesägt, weil sie den Mietern das Licht nimmt und ihre parkenden Autos verklebt. Das tut weh! Aber sofort wird eine neue, eine junge Linde nicht weit von Ursulas Balkon gepflanzt. Der Balkon ist ihr so eine Freude! Schnittlauch, Liebstöckl, Zwiebelröhrl, Rosmarin und Pfefferminz, rankende Feuerbohnen, natürlich auch Blumen und – hört, hört - keine Schnecken. Wunderbar! Das Leben ist wieder voll spannend. Auch wenn ihr anfangs der gotische Baustil der Altstadt manchmal zuviel wird, gibt es ja auch die renovierten Wohnblocks der 60er Jahre, eine kleine Siedlung in Bahnhofsnähe, in der sie gerne lebt. 

 

Aber es dauert schon seine Zeit, bis etwas Heimat werden kann, nie die eine, die richtige, die unhinterfragte, nämlich die der Kindheit. Das war Weilheim, Ursulas Geburtsort mit dem Oma-und-Opa-Haus, dem Hardt, dem Gögerl und dem Dietlhofer See. Als sie zehn Jahre alt war, ist sie mit der Familie nach München umgezogen worden. Das war ein Trauma. Aber inzwischen weiß Ursula, dass sie sich überall einleben kann. Weil es auf die Leute ankommt, die einer ans Herz wachsen und einen neuen Ort zur Heimat werden lassen. Und nätürlich auch die eine oder andere Linde.

 

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