Tibet im Kopf

 

Urszenen, Urmeer. Urgesänge. Über den grauen Wassern schwebt ein Vogel, ein Flieger, ein Geschöpf vor der Schöpfung. Und dann tauchen sie auf, die Rücken aus der Flut, die Wale aus dem Meer, die Sänger der Tiefsee. Schwimmen, verlanden und begrünen sich. Staffeln schieben, türmen sich zu Gebirgen, zum Himalaja, an dessen Hängen Trompeten und Hörner blasen.

Jetzt geht’s los: Eilig trippeln Schafherden die Schotterwege neben den Sturzbächen entlang. Sie werden von kleinen schwarzen Hunden getrieben, vorbei an hohen Huflattichblättern und Schnecken, die die kalte Feuchte lieben. Eine Hirtin wandert hinterher, mehrere, sie spinnen im Gehen, die Spindel wirbelt, sie zwirnt den Faden, der wird über Kreuz aufgewickelt und erneut ausgeworfen zum Wirbeln. Sie spinnen Geschichten, Lieder, Urweltmuster. Drei tibetanische Frauen mit brauner Haut, schwarzen Augen und Zöpfen, bunt gewebter Kleidung und tanzenden Spindeln.

Wie es riecht: nach Schaf und Milch, nach Käse und Brennesseln. Holzrauch auch. Wie die Steine klicken, die Kiesel rollen, die Hufe der kleinen schwarzen Rinder dran stoßen. Pflatsch, der Dung fällt. Plitsch, pflatsch. Wie der Wind, der kalte Wind weht, und der Gießbach rauscht. (Es wird nicht gejodelt.)

Und wo sind wir jetzt? Weiter unterwegs, unterwegs.

Ah, jetzt, da ist ein Gatter, offen für die Herde. Die Schafe strömen Rücken an Rücken ins steinerne Mauergeviert. Nun wird gemolken. Die Milch spritzt ins Gefäß. Es klingt hell, dann dunkler und schaumiger, bis die Schale voll ist. Schwupps, mit einem Schwall wird die Milch in einen Kessel gegossen, der wird übers Feuer gehängt. Im Zelt, in der Jurte? Nein, im Freien auf einem Feldsteinherd. Ja, der passt gut. Käsen = Milch ernten. Und Brot dazu: Schwaden, Grassamen, Gerstenkörner, Schrot, Fladenbrot über rundem, heißen Blech gebacken.

Plötzlich wuseln Kinder herum, trappeln, laufen, stolpern daher mit Rotzglocken, roten Backen, dreckigen Gesicherten, verfilzten Haaren. Lustig, frech und froh.

 

Und weil das alles am Anfang der Welt ist, sind die Männer im Hintergrund geblieben, freundlich und bescheiden. Sie drängen sich nicht vor, stoßen keine Kinder weg, schieben keine Frau beiseite, brüllen keine Befehle, hauen keiner Kuh mit dem Stock in die Flanke, werfen keiner Katze einen Stein nach und geben keinem Hund einen Fußtritt.

Da oben im Himalaja weht der Wind frisch und frei, singen die Wolkenwale, schwimmen die Nebeldelfine, sprudelt die Quelle, blinkt das Gold, scheint das Silber als Mond vom Himmel. Es wächst das Gras, es blühen die Blumen, duftet der Klee im Sommer und spinnen die Frauen. Spinnen und singen und tanzen. Käsen und buttern und kochen. Schneuzen den Kindern die Nasen, melken die Schafe, kämmen die Küh, die kleinen schwarzen Yack, filzen die Decken und heizen den Herd.

Das tun sie am liebsten, wenn sie alt sind. In jungen Jahren reiten sie auf wilden Pferden und lassen sich von Himalaja-Piraten fangen und lieben. Und lieben zurück, aber wie!

 

April 05

 

 

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