Der Ziegenfisch

 

 

Hochwasser. Der Fluss führt heftig Wasser, tritt über die Ufer, unterspült die Wurzeln der Bäume, dass sie sich neigen, fort gerissen, mitgeschwemmt werden in der Strömung, in den braunen Fluten und sich an Brückenpfeilern stauen und verkeilen. Hochwasser in Euphrat und Tigris.

Die Fische. Wie ist es für die? Haben sie Gumpen? Halten sie sich hinter Steinen still? Halten sie sich mit aller Kraft in der Strömung oder werden sie mitgerissen. Hoffentlich werden sie nicht in die Baumwurzeln gerissen, reingefetzt, aufgkratzt, gespießt von Zweigen und Ästen.

Ich muss raus, so spürt ein Fisch, ich muss aus dem Wasser, es wird mich umbringen mit seiner Gewalt. Wenn ich mich nicht meinem eigenen Element entziehe, mich wandle, entkomme, geh ich drauf. So ein kluger Fisch. Er strengt sich an, nimmt alle Kraft, allen Mut, springt und schnellt ans Ufer, sprengt seine alte Gestalt. Hört plötzlich seine Hufe klacken, harte, kleine, gute Hufe, hat Gelenke, schöne, stabile, gelenkige Gelenke, verliert die Schuppenhaut, fühlt Fell wachen, behaart sich, ein raues, kurzes, praktisches Ziegenfell, mäh, Triumph!

Was für eine Freude, so zu mähen, eine Stimme zu haben. Weg vom Wasser, rauf aufs Trockene, aufs Feste, aufs Land, welche Lust zu springen, hochzuschnellen auf die Felsvorsprünge. Wie ein Fisch, aber jetzt gibt’s Horn, Haar, Huf und Fels. Und jetzt? Hörndl, Ohren? Hört er die anderen mähen, klacken, springen? Könnt schon sein, dass ein paar aus dem Fischschwarm die Metamorphose ebenfalls gelungen ist. Jetzt sind sie eine Herde.

Gibt’s was zum Fressen? Klar, und Kleine haben wir auch. Wir nehmen sie in die Mitte, senken die Köpfe nach außen und zeigen den großen Katzen, die auf unsere Kitze scharf wären, die Hörner: He, da könnt ihr reinrennen, da bleibt ihr hängen, da knallt ihr drauf und werdet den Steilhang runtergestürzt. Schon kollern die Steine. Und wir schreien triumphierend. Dann steigen wir stetig höher, atmen tief, wedeln mit den Ohren, den Schwänzen, spüren die Kraft in unseren Leibern. 

Nach einer Zeit, fünf, sechs Monaten, folgt die Sonne ins Gelände, steht steil drüber und heizt es auf. Die Felsen glühen, verdorrt sind Gras und Kraut, abgefressen auch. Durst! Unten der Fluss, ein dünnes silbern mäanderndes Band. Oder ist er versiegt? Nein, er liegt bescheiden und zahm in seinen Grenzen, seinen Ufern. Wir sehen Schiffe, Boote, Floße und Menschen am Ufer. Frauen holen Wasser, waschen, Kinder plantschen, schwimmen. Ja, dort wollen wir auch sein, wir wollen schwimmen, uns aalen, wenden, schwänzeln, den Leib vom Wasser umflossen. Unsere Zicklein sind groß geworden, sie riechen das Wasser, sie schnuppern mit den Nüstern, mähen. Ja, wir steigen wieder runter. Die Hufe klacken, die Gelenke federn, fangen den Aufprall ab, biegen sich. Die Muskeln sind voller Kraft, es ist eine Lust, hinunter zu springen. Mal bedächtig den Tritt suchen, mal blitzschnell von Stein zu Stein. Die richtigen Steine schieben sich fast von selbst unter die Hufe. 

Und da, da ist es: das Wasser. Flüssig, nass, kühl, es scherzt mit uns, es lockt uns. Wir schnuppern, trinken, betreten es, lassen es unsere Hufe, die Gelenke und Knie, ja den Bauch bedecken, stoßen uns ab und werden gekühlt, umspült, am Rücken, am Hals. Das Fell löst sich, die Haare fluten davon. Wie unbeholfen sind jetzt unsere großen eckigen Leiber. Wir wünschen uns glatt und wendig. Ziehen die Füße ein, kriegen Flossen, steuern, fächeln, dehnen den langen, schlanken Leib. Stecken den Kopf unter Wasser, tauchen schlangengleich hinein. Wir brauchen keine Ziegennase mehr, keine Ohren und Hörner, fast keinen Kopf. Wir atmen mit Kiemen, die Augen silberhell nach allen Seiten gedreht. Schuppen wachsen, ein leichter Panzer aus Chitin. Ein Maul zum Schnappen, die Nahrung schwimmt uns entgegen, man braucht es bloß offen zu halten. He, wie wir flitzen, wie wir blitzen im Schwarm. Wir werden eins. Ah, es ist so gut, ein Fisch zu sein.

 

Juni 08

 

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