Die Bazille

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

 

Die Bazille gehörte als Kneipe nicht zur ersten Garnitur. Wir, ihre Stammgäste, auch nicht. Wir waren zwar alle wahnsinnig kreativ, aber irgendwie nie recht zum Zug gekommen. Auch vom Triebleben her waren wir nicht ganz einfach: Mal so, mal so. Oder ganz anders. Oder ganz und gar nicht. Untertags hatte wir nichts miteinander zu tun. Nur nachts, frühestens nach drei Bier, waren wir uns liebenswert.

 

Jeden Abend so gegen zehn fing's an: Soll ich oder soll ich nicht? Immer die gleichen Gesichter! Aber ich hatte heute noch niemand gesehen. Ich musste unter die Leute. Ich brauchte es!

Es dröhnte und dampfelte, wie die Tür von der Bazille aufging.

Ich schaute als erstes zur Wirtin - "ja, ein Bier!" - und ging hinter zur Garderobe. Das sind jeweils drei Haken links und recht von Damen und Herren.

"Grüaß di, Micha! - Ja, der Armin, servus! - Hallo, Billi, schick schaust heut wieder aus!"

Es gab immer ein paar, die ich übersah, mit Absicht. Die hatten mir mal das Kraut ausgeschüttet, oder ich war ihnen vor einiger Zeit sehr nahe gekommen, und es war immer noch peinlich. So, jetzt kam es darauf an, zu wem ich mich hinstellte oder -setzte. Aber heute gab's keine Wahl, heute hatte die Karla Geburtstag.

Die Karla, das war so eine! Man konnte ihr nicht böse sein, sie hatte es ja so schwer gehabt. Zuerst die böse Mutter und dann der böse Gatte, und so ein böses Leiden: Das Saufen. Wir anderen tranken alle bloß zur Entspannung. Jedenfalls hatte die Karla den Doktor. In Soziologie. Seitdem fuhr sie Taxi; sie war einfach überqualifiziert.

Am hinteren Marmortisch war reserviert, und jetzt waren wir alle beieinander: Die Christa und die schöne Micha, der Pepi und sein Neuer, die Karla und ich. Dann kam noch der Dings, der Fred.

Es wurde und wurde nicht zwölf, obwohl ich immer wieder auf dem Pepi seine Rolex schaute. Der Pepi glänzte im Gesicht, und sein Schnurrbart war frisch getrimmt. Sein neuer Freund hatte keinen Schnurrbart. Ich verkniff mir das Kompliment, dass er viel netter ausschaue wie der Alte. Der Fred blieb stumm, weil er nur über Computer reden kann, und das heute kein Thema war. Die schöne Micha war so schön wie immer, und die Christa gab mir ein Tempotaschentuch, wie ich eines brauchte. Auf die Christa war halt immer Verlass.

Gottseidank, jetzt war es doch noch zwölf geworden, und die Wirtin konnte den Sekt aufmachen. Genau in dem Moment bekam der Günter am Nebentisch einen Anfall, psychomäßig, und schrie die Billi an, sie hätt ihn ja noch nie verstanden, und die schrie zurück, er hätt ja null Ahnung, und wir schrien: "Häppi Börsday tu juu!" Wir stießen mit der Karla an, und sie war einwandfrei die Hauptperson. Es fiel ihr nicht leicht. Sie zierte sich beim Päckchenaufmachen. Den Tesafilm pappte sie auf meinen Tabakbeutel.

"Darf ich doch, oder?" Klar durfte sie. Es war ja ihr Geburtstag, vier Tage nach Weihnachten. Ihre Mutter hatte ihr füher unterm Christbaum nicht alle Päckchen aufmachen lassen. Ein paar hatte sie vier Tage lang anschauen müssen. Zuerst das Jesulein, und dann kommt lang nix. "Ja, auch den Tesafilm darfst mir draufpappen..."

Am liebsten von allen Geschenken, die sie schon gekriegt habe, sei ihr der Kugelschreiber vom Sascha, ihrem Sohn. Drei Monate lang durfte sie ihn nicht sehen, den Sascha, weil es der böse Ex-Gatte zu verhindern wusste. Der Typ war ihr zum Schicksal geworden, aber nicht nur der. Alle, seit Adam und Eva. Ja, die Karla und ihre Schicksale. Wir kannten sie in- und auswendig. Aber heute war ihr Geburtstag.

 

Die Wirtin hatte jede Nacht die gleiche undankbare Aufgabe. Sie musste "Polizeistunde" schreien, wenn's gerade am Schönsten war. Wenn die Berta aus Bremen da war, schrie sie: "Polizeistunde!" Da fiel einem das Gehen leichter, mir jedenfalls. 

"Ladies änd Piepel, de Neitclab is klosed!", schrie die Cosy.

"Habt‘s ihr keine Betten?", rief die Wirtin. "Schleicht's euch doch nach nebenan, da kriegt ihr noch was."

Genau das taten wir! Man kann den Durst und den Spaß doch nicht einfach so abwürgen. Anschließend sind wir noch zu mir gegangen. Das heißt, gefahren, im Taxi zu fünft, und für einen Zehner ohne Uhr. Beim Aussteigen ist dem Pepi leider die Sektflasche ausgekommen. Wir haben die Scherben im Hinterhof in die Aschentonne geschmissen, so dezent wie möglich um drei in der Früh. Auf meinem Balkon war noch ein halber Kasten Augustiner, und auf dem Ofen ein Topf mit Linsensuppe. Es ist fünf Uhr geworden, aber nicht hell. Das wird es um die Zeit nicht, vier Tag nach Weihnachten.

 

1990

 

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