Die Zung vom Bockerl

 

Gestern habe ich mein Zelt abgebaut und bin in das frei gewordene Zimmer im ersten Stock umgezogen. Ich bin zum Zelten doch zu alt geworden. Ich hatte mich zwar an die Härte der Bodenmatte gewöhnt, an das Nachtvogelgeschreie und die Windstöße in den Baumkronen. Hatte mich an den Schlafsackschlauch gewöhnt, in dem ich eingenudelt war wie die Raupe im Kokon. Dass ich mich beim Aufstützen nicht mehr auf meine Handgelenke verlassen kann, das war überraschend und auch, dass es mir meine Knochen so verzogen hat beim Hinein- und Hinauskriechen. Aber gefreut hat mich die Ziegenherde, die täglich ein paarmal auf dem Hang über meinem Zeilt vorbeigezogen ist.

Ein kleines Bockerl hat gehatscht, das heißt gehinkt. Es hat den rechten Vorderfuß hochgezogen und einfach baumeln lassen. Trotzdem hat es fröhlich mit den Ohren gewackelt, wenn es mit den anderen Ziegen, als letztes zwar, über den Hang hinunter gestürmt ist.

Ich hab den Bauern drauf aufmerksam gemacht, aber er sagte, das wäre halt so und es würde sich schon wieder geben. Und außerdem sei es eh ein Zwillingsbockerl, eins, das man bald schlachtet, weil die Mutter nicht genug Milch für zwei hat.

Aber es hat sich nicht gegeben. Ich hab's hinken sehen Tag für Tag, an dem die Herde an meinem Zelt vorbeilief. Glöckchengeklingel, Hufegetrappel und das laute, rotzige Nasengeschnaube der großen Schwarzen. Zuerst war mir das ganz ungemütlich, bis mir eingefallen ist, dass mein Vater früher genauso geschnaubt hat, bevor er zum Schimpfen anfing.

Es hat schon lange geheißen, dass geschlachtet werden muss. Und ich, ich hab schon lange davon geredet, dass ich dann zuschauen will. Heute früh sind das Gewehr, das Messer und der Schleifstahl auf dem Gartentisch gelegen, und es war soweit. Ich bin aber erst hinter zum Stadel, als der trockene Schuss schon eine zeitlang vorbei war, das Bockerl mit einem rosafarbenem Plastikstrick an den Hinterfüßen aufgehängt, und der Bauer mit der Messerspitze das Fell sauber an den Innenseiten der Oberschenkel aufgeritzt hatte. Andere Gäste haben sich näher gedrängt, aber ich hab mich außerhalb gehalten, damit ich gehen kann, wenn es mir zuviel wird. Deshalb hab ich am Türpfosten den Strick ins blutvertropfte Stroh hinunterhängen sehen, das rot war wie im Kino, aber echt gerochen hat, und auf einer dreckigen Plastikplane den abgeschnittenen Kopf und auch den kleinen Samensack.

Es hat etwas gedauert, bis der Bauer die Haut runtergezogen hatte vom Leib. "Fellhand und Fleischhand", hat er gesagt, "darf man nie verwechseln, sonst kommt ein Geruch hinein!"

Das hat mir eingeleuchtet. Seine Faust hat sich in die Seiten des kleinen Körpers hineingebohrt. Es hat nicht aufgehört, ein Zicklein zu sein, hautweiß jetzt und ohne Decke. Der Kater vom Hof ist auf den Balken gesprungen und hat sich immer gieriger aufgeführt. Am meisten habe ich mich davor gefürchtet, wenn der Leib geöffnet wird, weil ich mir stürzende, blutende Ungeheuerlichkeiten vorstellte. Aber nein, eine Hand dagegengehalten, dann fiel alles langsam und graugrün in die Plastikschüssel. Da wurde ich plötzlich nass: Aus der Herzspitze spritzte Wasser bis zu mir her.

Nun war das Gröbste getan. Nierchen, Leber, Herz und Lunge lagen in der Edelstahlschüssel, der Dreck, Mägen und Gedärm für die Hunde, in der anderen. Der Kater bekam die Luftröhre zugeworfen, und der Leib, innen hellgrau und leer, außen weiß und von ein paar feinen roten Äderchen gesprenkelt, kam zum Abkühlen in die fliegenfenstervergitterte, kalte Kammer.

Die anderen Gäste waren schon weggegangen, als der Bauer noch den Kopf enthäutete. Das war nicht leicht zum Hinschauen wegen der Augen, die übergroß aus dem nackten blutigen Gesicht herausschauten. Das Hirn müßt man mit dem Hackl heraushauen, sagte der Bauer, aber das hätt er jetzt nicht da. Und es sei der Mühe nicht wert, weil es eh zu klein ist. Von der Kehle her schnitt er die Zunge heraus, hob sie hoch und gab sie mir. Und ich, ich hab sie in die Hand genommen. Dieses entwurzelte Ding hab ich mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand gehalten. Und da war die Zunge noch warm, und mir wurde ganz zärtlich zumute. Zärtlich zumute für das Bockerl, das hatscherte, das es nun nicht mehr gab.

 

1992

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