Mrs. Frida Frank

 

 

Es fing in den frühen Sechzigern an, sich im öffentlichen Bewusstsein breit zu machen,  dass wir Deutsche nicht nur tüchtig und fleißig, sondern auch die Bösen, die Mörder und Verbrecher an den Juden sind.

Ich war siebzehn, als meine Schule in Anne-Frank-Mittelschule für Mädchen umbenannt wurde. Im Unterricht wurde das Tagebuch der Anne Frank gelesen, da führte kein Weg vorbei. Selbst unserer Lehrerin war das Thema selbst nicht geheuer. Und mir war es unmöglich, mich mit Anne Frank wirklich einzulassen. Man möchte doch nicht eingesperrt sein, mit den Eltern und anderen Leuten auf engsten Raum leben müssen, und bitte ganz leise! Zum Schluss geht es nicht mal gut aus. Das Mädchen wird gefunden, aus dem Versteck gezerrt, und abtransportiert. Sie stirbt in Bergen-Belsen an Typhus, ein paar Tage bevor die Befreier kommen. Nein, mit so etwas wollte ich nichts zu tun haben. Und bin später direkt hineingestolpert ... in die Privatpension von Frau Frida Frank in Amsterdam.

Die Befreier, die uns erlöst haben von der Hitlerei, vom Krieg, von den Bösen und den Nazis, waren bei uns in Bayern die Amerikaner. Sie haben uns umerzogen und entnazifiziert, bis wir nach einigen Jahren der Buße und des Aufbaus wieder gut dagestanden sind, alles repariert war und prosperierte. Weiße Westen? Ziemlich viele. Ich zum Beispiel war völlig unschuldig, ich hatte die Gnade der späten Geburt, auch wenn es nur zwölf Stunden waren. „Zerscht san d’Amis kemma, na du“, wurde mir erzählt. Sie rollten mit ihren Panzern über die Hügel im Westen hinab ins breite Tal, in dem sich meine Geburtsstadt Weilheim ausbreitet, an weißen Betttüchern vorbei, und brachten den ersehnten Frieden, Schokolade und die Demokratie. Ja, ich war schon ein besonderes Kind, ein Friedenskind. Ich war auf der Siegerseite. 

Wir lernten von klein auf ihre Sprache, kauten Kaugummi, liebten Cola, schmolzen bei Elvis, rockten mit Bill Haley und hoola-hoopten in Jeans around the clock. Später lasen wir Jack Kerouck, sangen mit Bob Dylan, waren empört mit Joan Baez und wurden ein bisschen zen-buddhistisch wie die Typen in San Franzisko. 

Wem erzähl ich das alles? Mir, dir, Ihnen? 

Ich erzählte es Anne, nein, nicht Anne Frank, es war eine andere Anne, mit der ich den Achtzigern nach Italien, nach Grosseto del Mare gefahren war. Noch vor Pfingsten, es war kühl und windig, unfreundlich und fast alle Geschäfte und Pensionen zu. Anne und ich hatten ein schlechtes Gewissen, dass wir überhaupt da waren, zu früh, unwillkommen und deutsch. „Immer hab ich im Urlaub deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt“, sagte Anne, „überall waren die deutschen Soldaten schon da gewesen und hatten übel gehaust und gemordet. Auf Kreta zum Beispiel. Auch in Holland, fiel mir ein. Damals in Amsterdam. 

Abends saßen Anne und ich auf  unserem Zimmer, das uns doch noch jemand vermietet hatte, ausnahmsweise, saßen auf  Metallbetten, die von der salzigen Luft angefressen sind, die dünnen Decken um die Schultern gezogen. Aber der wackelige Tisch zwischen uns voll mit Weißbrot, Oliven, Käse, Mortadella, zwei Zahnputzgläsern und einer Flasche Rotwein. Erzähl mal, wie war das in Amsterdam, sagt Anne.

Ja, also. Es war doch privat, sag ich, eine Privatpension. Mrs. Frida Frank hat untervermietet und es war noch ein Doppelzimmer frei. Dass sie keine Deutschen im Haus haben wollte, hatten wir gehört, aber ich dachte, sie merkt nichts, weil ich gut Englisch geredet habe, amerikanisches Englisch. Und Alan war eh einer. Was für einer, will Anne wissen. Ein Amerikaner, sag ich, so alt wie ich, dreiundzwanzig, rothaarig und meine Große Liebe.

So jung, lächelte Anne. Ja, so jung. Und nach dem, du weißt schon was, hat er mir im Bett Winni the Pooh vorgelesen. Und The Wind in the Willows von Keneth Graham. Das war schön, so eine Sprache. Die Ohren wurden mir weit. Die Bücher standen auf einem Regal, sie hatten Mrs. Frida Franks Kindern gehört und wir waren im ehemaligen Kinderzimmer einquartiert. Natürlich hatte sie gleich gemerkt, dass ich eine Deutsche war, aber sie hat mich nicht rausgeworfen.

Anne vermutet, dass sie das junge Liebespaar nicht trennen wollte und will wissen, warum sie keine Deutschen in ihrem Haus duldete.

Weil während der deutschen Besatzung, erzähl ich, ihr Mann und ihren beiden Söhne von der Gestapo verhört worden waren. Zwei sind dran gestorben, nur einer hat’s überlebt, der jüngere Sohn.

Das ist ja furchtbar. Anne schmeißt fast die Flasche um. Wie hast du der Frau in die Augen schauen können?

Heute würde ich sagen, ich war ganz schön ignorant und hab mich damit geschützt. Diese Ohnmacht, das nicht mehr ändern zu können, verstehst du, das aushalten müssen. Ich hab mir ein Seelenfell zugelegt. Ich war doch nicht schuld daran, ich doch nicht. Es waren die Nazis, die deutschen Männer.

Und außerdem bin ich nicht deutsch, sonder bairisch. Und schäme mich dieser billigen Ausrede. Aber Anne lacht.

Mrs. Frida Frank ist mit Alan und mir sogar in einen Feinkostladen gegangen, wir durften uns fürs Frühstück etwas aussuchen. Ich wollte Krabben in Mayo und Alan bekam seine Leberwurst. Dann hat sie uns ihren Hausschlüssel gegeben, weil sie nämlich einen Tag vor unserer Abreise zu ihrem einzigen Sohn und den Enkelkindern gefahren ist. Und wir sollten den Hausschlüssel durch den Briefschlitz werfen, wenn wir uns auf die Reise machten. Wir haben’s getan und ich hab ihr noch jahrelang zu Weihnachten geschrieben und ein Schnupftabaktüchl geschickt. Sie hat so etwas gesammelt, den Blaudruck. Und sich darüber gefreut, ja.  

Anne bewunderte mich, weil ich zur deutsch-jüdischen Versöhnung meinen Beitrag geleistet hätte. Aber ich zweifle daran. Es war doch nur privat, oder? Und vor allem die große Menschlichkeit von Frau Frida Frank.

 

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