Die Wehr-Wölfin

 

Hinter meiner, vorder meiner,

links, rechts, gibt's nix.

Ober meiner, unter meiner,

siech i nix.

 

Ja, wenn nichts ist, kann es losgehen mit dem Neuen. Mit der Fährte der Wölfin. Sie läuft den Hang hinauf und verschwindet im Wald. Die Wölfin ist unterwegs.

Das ist die Geschichte von N., die im Moment mit ihrem B. fix und fertig ist. Sie nimmt sich ein paar Tage ehefrei, fährt mit dem Auto ins Österreichische, quartiert sich ein und macht einen Spaziergang. Wandert hinter in ein Tal, wohlbekannt zuerst, verläuft sich, kennt sich nicht mehr aus. Muss einkehren in einem Häusl, steil an einer Lehne. Gänse fauchen, eine Hundeschnauze fährt ihr unter den Rock. Die alte Frau, die den Hund zurückpfeift, hat ungewöhnlich lange Eckzähne. Als N. gemütlich dasitzt, vor sich eine Tasse Kaffee und ein Stück altbackener Hefezopf, kriegt sie gesagt: "Sei Wölfin!" Das, und sonst nichts. Die alte Frau bleibt stumm, auch beim Abschied. Den Weg zurück findet N. ohne Schwierigkeiten.

Wieder Zuhause, geht ihr das "Sei Wölfin!" nicht mehr aus dem Kopf. Als erstes fällt ihr "Wehr-Wölfin" ein, mit H. Sich wehren. O ja. Zähne zeigen, Fell sträuben. Drohend, knurrend dastehen. Zuschnappen, beißen, sich nichts mehr gefallen lassen!

N. ist eine idealistische Frau, die sich seit ihrem Vierzigsten vor ein paar Jahren einigermaßen daran gewöhnt hat, dess es nicht so wunderbar ist, das Leben. Und nicht einmal die Arbeit. N. ist Illustratorin, sie macht Bilder zu anderer Leut' Ideen. Und die sind nicht immer das Gelbe vom Ei. Trotzdem der permanente Versuch, die Sehnsucht nach dem Unbedingten mit der kreativen Arbeit zu stillen. Das gelingt nur selten, weil auch die Selbstzweifel so gross sind. Früher sagte der Vater: "Geh, red doch nicht so dumm daher! Was verstehst denn du schon davon?" Die vom Hausfrauenleben erschöpfte Mutter schwieg. "Red doch keinen Schmarrn, du bist ja nicht normal!", sagt seit ein paar Jahren der B., mit dem N. so gut wie verheiratet ist.

Und plötzlich sieht und spürt sie die Wölfin: Sie läuft, sie rast, sie hetzt einen Hasen. Zieht die Lippen, nein, die Lefzen, hoch und schlägt mit einem gewaltigen Sprung ihre Zähne hineinen in das Hasengenick. Beißt zu, hört es knacken, die kleinen Halswirbel brechen, und spürt das warme Blut metallensüß auf ihrer Zunge. N. schüttelt sich entsetzt.

N. hat manchmal die irrwitzige Hoffnung, doch noch einen zu finden. Den Einen, den Prinzen, den Ritter auf dem weißen Pferd. Da muss sie selber lächeln. Aber es ist doch unbestreitbar so, rechtfertigt sie sich hartnäckig, dass es ihn geben könnte, sie ihm nur nicht begegnenen kann, weil es der Zufall nicht erlaubt. Den einen, der sie erkennt, und der sich furchtbar freut, dass es sie, N., gibt. Ausgerechnet sie. Also, dieser Mensch muss einfach existieren. Sie bräuchte ihm niemals zu begegnen, Hauptsache, es gibt ihn. Sonst müßte sie resignieren und der Sinn ihres Lebens wäre gefährdet. Denn in der Ehe und in der Arbeit liegt er nicht, obwohl es auch gute Zeiten mit B. gibt, und sie auch hin und wieder von einem Projekt mitgerissen ist. Aber danach setzt die Erschöpfung ein, und der Abend liegt vor ihr und will verbracht werden, ohne dass sich das Loch auftut, der Riss knistert, sie ihre frischgestrichenen Küchenmöbel gnadenlos und weißlackiert anblitzen. B. hockt im Wohnzimmer vor dem Fernseher.

Die Wölfin läuft im winterlichen Zwielicht über einen Acker. Schön ist dessen schwarzweiß geriefelte Struktur. Wie ein grauer Blitz schießt sie dahin, die dürren, sehnigen Beine voller Kraft. Ah, wie sie läuft, in der Senke untertaucht, den drüberen Hang hinaufrennt und im Wald verschwindet.

B. war so ein liebenswürdiges, sauberes Mannsbild, nachgiebig und freundlich, das einen Diamanten im Orläppchen trug und ihr als ein ganz Besonderer vorkam, als sie ihn kennenlernte. "Mein Diamant im Kohlenhaufen bist du", sagte sie zu ihm, weil sie schon einige Erfahrungen mit Männern hinter sich hatte. Es dauerte diesmal ein bißchen länger, bis sie merkte, dass B. auch nicht anders ist. Und der Diamant ein eitler Schwindel. 

Sie hört ihn den Fernseher ausschalten und ins Bad gehen. Er kann ohne sie nicht einschlafen.

Laufen kann die Wölfin, unglaublich schnell davonlaufen. N. stöhnt. Wenn eine sich nicht wehren kann, muss sie wenigstens laufen, davonlaufen können, denkt sie. Ja, sie haben ihre Krisen gehabt, sie und der B. Aber nach der letzten, eben derjenigen, in der sie die alte Frau traf, hat sie ihm innerlich die Treue geschworen, den Gedanken an Trennung verbannt. Sich vorgestellt, wie sie im Alter wohnen könnten. Raus aus der Stadt und auf dem Land vielleicht zwei Zimmer mieten, ihm eins, ihr eins. Einen Kocher mit zwei Platten, mehr an Küche wär nicht nötig. Sie hat so eine Sehnsucht, sich zu reduzieren. Nur das Nötigste behalten, den lebenslang gesammelten Krempel hinschmeißen. Eigentlich, eigen-tlich will sie sein. Und fürsorglich für den B., so gut es geht. Zärtlich will sie sein, er wird sich eh nicht mehr ändern.

"Komm doch endlich ins Bett, wo bleibst du denn?" B. ruft nach ihr.

Da sieht sie plötzlich im dunklen Flur schräg funkelnde Augen vor sich, hört zwei lange Eckzähne zusammenschnappen. N. knurrt. Leise zieht sie die Wohnungstür hinter sich zu. Die Wölfin läuft um's liebe Leben. 

 

Gesendet von Michael Skasa im BR, Sonntagsbeilage  ca 1993

 

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