Eine Flucht

Ich kann von keiner schreiben. Ich kenne keine Flucht.

Ich bin ins Bairische hineingeboren, ich gehör zu den Hiesigen.

Die andern, das waren die Flüchtling. Wir nicht. 

Als Kind kannte ich nur die Flucht nach Ägypten. Ja, die mit dem Jesulein,

das der König Herodes umbringen lassen wollte. Schuld dran waren die Heiligen Drei König, weil sie bei Herodes nach dem neuen König der Juden, der gerade geboren worden ist, gefragt hatten. Ob er wisse, wo der sei. He, he, der König bin ich, dachte sich Herodes, da kommt mir keiner in die Quere. Ausmerzen, ausradieren, umbringen. Es gibt keinen anderen König als mich. Da hat er sich, wie wir wissen, geschnitten, aber dafür hat er die anderen Babys erwischt, das muss man sich vorstellen! Da gibt es so Weihnachtskrippen, da wird gestochen und gehauen, das Kinderblut fließt und die Mütter krümmen sich im Schmerz und im vergeblichen Versuch ihre kleinen Buben zu retten. 

Die Flucht nach Ägypten, das war eins der großen Schaubilder in der Weilheimer Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt, eine riesige Krippe, zwischen zwei Seitenaltären aufgebaut. Als letztes kam die Hochzeit von Kana, prächtig und figurenreich, aber da war Jesus schon erwachsen und konnte denen helfen, die zu wenig Wein besorgt hatten. Davor jedoch kam „Das Haus Nazareth“, in dem Maria spann und ihr Jesus-Bub Schreiner gelernt hat von seinem Ziehvater, Josef, dem Zimmermann.

Bei der Flucht nach Ägypten dagegen war Jesus noch klein und verletzlich. Das Krippen-Bild davon machte nichts her, es war eher armselig. Nur Wald und Wüste, Gestrüpp, Felsbrocken und Sand. Und in der Mitte der Esel, auf dem Maria saß, das Kindl in ihrem blauen Umhang verborgen. Man konnte es nicht sehen, aber es war da, sonst hätte sich ja der ganze Aufwand nicht gelohnt. Josef ging voran, das Tier am Strick, und darüber ein schwebender Begleit-Engel.

Der, der ihm im Traum geflüstert hatte, dass er Frau und Kind zusammenpacken und schnellstens die Flucht nach Ägypten antreten müsse. Der Engel begleitete die kleine Familie. Das möchte man auch denen wünschen, die heute unterwegs sind.

Wie lang sind sie dahingezogen bis nach Ägypten hinunter? Tage, Nächte? Hitze, Kälte? Hatten sie einen Reiseführer? Einen Schlepper? Geld, Kohle, um Nahrung zu kaufen? Wasser, um den Durst zu löschen? Josef, der Ernährer, wird wohl für sie gesorgt haben, Das kann man den heutigen Flüchtlingen ebenfalls nur wünschen!

Sie sind vielleicht von Brunnen zu Brunnen gezogen, einer Karawane hinterher. Datteln werden die Leut der jungen Mutter geschenkt haben, damit ihr die Milch nicht ausging. Bewundert haben sie das Baby, von dem ein Schein ausging, ein feines Leuchten. Und die heutigen Kleinkinder auf der Flucht? Werden ihre Mütter geachtet, wird ihnen Platz eingeräumt auf den Bootsbänken? Sie haben nicht immer einen Josef dabei.

 

Zurück nach Ägypten. Kleopatra war seit 30 Jahren tot, und das Land eine römische Provinz mit Gaius Turranius als Präfekt. Hat er Grenzkontrollen einrichten lassen? Gab es Zäune? Gab es Lager? Sicher nicht wegen der drei Hanseln. Was hätte ihm, dem Vertreter Roms, gefährlich werden können? Nur immer her mit den Leuten, das bringt Arbeiter, Handwerker und Steuern. Ich bin doch nicht blöd! Jawohl, einen Zimmermann kann man brauchen und diese junge Frau kann sicher spinnen, vielleicht auch weben und nähen. Und das Kindl lassen wir mitlaufen ... Jedenfalls haben sie ihre Flucht überlebt. Das kann man nicht von allen Heutigen sagen.

 

Mehr als drei Jahre zogen sie den Nil hinauf und wieder hinunter. Es gab Höhlen zum Übernachten und viele andere Rastplätze, die durch die Anwesenheit der drei zu Kirchen- und Kloster-Gründungen führten und geheiligte Stätten der koptischen Christenheit wurden. Jesus, selbst noch so klein, wirkte Wunder. Er heilte z.B. einen Buben, der von bösen Geistern besessen war oder er ließ süße Quellen in einem Gebiet mit Salzseen aufsprudeln.

 

Dann meldete sich wieder der himmlische Bote. Josef hatte erneut einen Traum, bei dem ihm der Engel mitteilte, dass der Tyrann gestorben sei und sie wieder zuück nach Israel, Syrien, Afghanistan, Jordanien, Somalia, Eritrea, Nigeria oder sonst wohin heimkehren könnten.

Nun sind sie also wieder zurück. Der kleine Jesus spricht Ägytisch, er fremdelt in der Heimat, bleibt lieber daheim und lernt bei seinem Vater das Schreinern. Niemand rennt hier so herum wie in Ägypten: im Profil und mit einem weißen, plissierten Lendenschurz. 

 

Die heutigen jungen unbegleiteten Schreinerlehrlinge werden oft genug wieder ausgewiesen, wenn sie mit der Lehre fertig sind. z.B. nach Afghanistan, wo sie vermutlich nicht lange schreinern werden. Ja, was ist denn das für eine Bürokratie? Behutsam und verantwortungsvoll beim Abschieben. Mörderisch ist sie und fürsorglich zugleich, jawohl. Weil sie uns, den Einheimischen, die vielen Ausländer nicht zumuten will, die dunkel sind, abgefüllt mit Testosteron, und unsere Frauen bedrängen, Sylvester 15 in Köln, da war’s leider wahr. Und uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Und überhaupts: Sie überfremden uns. Da weiß man ja selbst gar nicht mehr, wer man ist.

Wir wollen nicht so fremd sein wie sie. Und heimatlos. „Ja, wie schaut’s denn hier aus?“, werden sie denken. „So anders. Nicht so wie es sich gehört. Anders ist das Gras, sind die Bäume, Häuser, Tiere, Menschen, der Verkehr. Und das Essen, es schmeckt nicht recht. Und wie sie reden. Das sollen wir lernen, das Kauderwelsch, damit wir bleiben dürfen!“

 

Doch, doch, ich erinnere mich. Ich hab als Kind schon Flüchtlinge erlebt, nicht nur die geschnitzten im Weilheimer Stadtpfarrkirchen-Kripperl. Sie kamen ja auch nach Weilheim, damals, und wurden als erstes in der Hochlandhalle untergebracht, in der sonst Landwirtschafts-Ausstellungen und Viehversteigerungen stattfanden. Es wird auch so gerochen haben.

Ich erinnere mich an das Fresko an der Stirnseite der Halle. Überlebensgroß blickt ein Bauer trutzig in die Zukunft, in Richtung Wessobrunn, von wo die Amerikaner mit ihren Panzern herabrollten, und die Weilheimer ihre Befreier mit weißen Bettüchern begrüßten, die sie später als Raumteiler in der Hochlandhalle benutzt haben. 

Aber wohin mit ihnen? Man brauchte die Hochlandhalle ja wieder, wo sonst sollte man die Rösser und Rindviecher versteigern? Und die Leut’ waren ja Deutsche, auch wenn sie so komisch redeten. Man baute ihnen also die Neue Heimat, so hieß die Siedlung, etliche Wohnblocks außerhalb der Stadt, in der Nähe des mittelalterlichen Pesthauses. 

 

Die Einheimischen wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Die Flüchtling’ brockten meinem Großvater die Schwammerl vor der Nase weg, weil sie noch früher aufstanden als er. Sicher hatten sie auch mehr Hunger. Sie bekamen Geld vom Ausgleichsamt, damit sie sich eine Existenz gründen konnten. Das gab Neid und böses Blut. „Uns hat ma aa nix g’schenkt. Aber dene werd’s hint nei gschobn.“ 

In die erste Klasse Volksschule ging auch ein Flüchtlingskind, sie hieß Roswitha. Roswitha hatte zu Weihnachten ein Puppenhaus bekommen. Ich durfte sie in der Neuen Heimat besuchen. Dabei ist mir in Erinnerung geblieben, dass rings um den Wohnblock nasser Baatz war und der Eingang zum Haus noch keine Schwelle hatte. Man musste über rutschige Bretter steigen. Schuhe aus und dann ins geheizte Wohnzimmer. Da stand das Puppenhaus, prächtig, dreistöckig, mit Möbel und Teppichen, mit Fenstern, Vorhängen und Treppen. Und ich durfte nur schaun, nix anlangen. Gar nix. Finger weg! Es war Roswithas Haus, einzig und allein das ihrige. Erst jetzt weiß ich, dass es der Ersatz für das verlorene Haus in der verlorenen Heimat war.

 

 

Von Ingrid Kellner, Hofangerweg 15, 84034 Landshut, Niederbayern

Gelesen am 26. März 2017 im Skulpturenmuseum Fritz König in Landshut.