Landshut 

 

Die Landshuter sind freundlich, man spricht bairisch. Alles geht, gottseidank, ein wenig langsamer wie in München, von wo ich vor sieben Jahren hergezogen bin. Auch die Isar lässt sich Zeit, außer wenn’s viel geregnet hat, dann fließt sie prall, heftig, nilgrün oder drecksbraun bis zum Spitz der Mühleninsel, wo sie in die Kleine und die Große Isar geteilt wird. Das Wasser riecht, so wie die Isar halt riecht, und dafür bin ich damals wieder heim, zurück von New York, wo ich eine Zeit lang war. Sie haben keine Isar, nur diese riesigen Rivers, gigantisch wie die Stadt selbst. Nein, ein lebendiger Fluss wie die Isar, in Landshut sogar zwiefach, das bringt’s. 

Es gibt auch Bäche, die so kräftig fließen wie der Hammerbach, mäandern wie die Pfettrach in der Flutmulde oder so faule wie der kleine Bach, der längs der Straße, in der ich wohne, vorbei rinnt. Er dient den Enten als Landebahn, zum Grundeln und zum Dösen im Eschenschatten, wenn sie nicht wie Jagdflieger um die Wohnblocks zischen, scharf an meinem Balkon vorbei, zu zweit, zu dritt, einander gnadenlos jagend. Da könnt ja ein jeder Erpel kommen und hier brüten wollen.

An der Kleinen Isar hat man vor kurzem eine Fischtreppe gebaut.  Die großen Steinblöcke sind noch hell ockerfarben und wenig eingewachsen. Ein paar Bikinimädchen und Badehosenbuben liegen herum, über ihnen spitzt das Dach des gotischen Stadels, ein Haus mit feinen Maßen und einer Galerie im ersten Stock, durch das südliche Robinienlaub. Der Wind bewegt die großen, silbergrauen Weidenkronen und eine kurze Pappelreihe mit einer Birke als Abschluss. Man soll auch bald wieder baden dürfen in der Isar.

Ein anderes Vergnügen, das man schon jetzt genießen kann, ist das Wallfahren nach Maria Brünnl: Noch ist es früh am Sonntagmorgen. Mein Radl holpert mit scheppernder Klingel übers Kopfsteinpflaster der Altstadt . Man hört das Scharren der Kaffeehausstühle, die aufgestellt werden und die Schritte einzelner Kirchgänger. Auch denen zieht’s, wie mir, den Kopf in den Nacken und den Blick hinauf zum höchsten Ziegelsteinturm der Welt, dem Kirchturm von St. Martin. Heut aber will ich nach Maria Brünnl zur Schönen Madonna, deren kleine barocke Wallfahrtskirche hinter den westlichen Hügeln des Landshuter Stadtrands liegt. Unten am Dreifalltigkeitsplatz park ich mein Radl und mach mich zu Fuß auf den Weg. Steil geht es die Alte Bergstraße hinauf. Ich könnt jetzt auf dem Ochsenklavier, einem Ziegelsteinweg mit gemauerten Querstreben, zur Burg Trausnitz hinaufsteigen und von dort aus quer hinüber zu Maria Brünnl, aber ich geh heut mal gradaus weiter. Oben reißt das Burghauser oder Huter Tor, sein Maul weit auf. Es war eins der sieben Stadttore Landshuts. Heut hängt auf beiden Seiten nur noch ein Stückl Mauer dran. Dahinter geht es immer noch bergauf, die hübsche Händlmeiergasse lädt ein, die laute und enge Autotraße zu verlassen.  Oben steige ich gleich das nächste Gasserl auf granitenen Stufen bis zur Pressgasse hinauf. Die Weinzierlgasse ist nicht weit, deshalb muss hier früher Wein angebaut worden sein. Jetzt bin ich lang genug gestiegen, denke ich und wähle einen schmalen Steig nach unten. Und wo komme ich raus? Auf einer kurvigen Autostraße. Aber gleich schräg gegenüber geht’s weiter hinunter. Wenn das nicht bestraft wird und ich wieder hinauf muss! Ja, ich hab mich verlaufen und sollte jemand fragen. Aber weil Sonntag ist, schlafen oder frühstücken noch alle Eigenheimbewohner. Bald erreiche ich die Neue Bergstraße, die, laut Schild, zur Liegendaufnahme des Krankenhauses Landshut-Achdort führt. Nein, lieber geh ich auf eigenen Füßen weiter, bis ich unter einer blühenden Linde mit summenden Bienen und weitem Blick stehen bleibe. An der gegenüberliegenden Hangseite wuchern Ein- und Mehrfamilienhäuser, first- oder traufständig, oft mit grellweißem Putz, dazwischen ein paar verwilderte Wiesengrundstücke. Es sind alle Baustile vorhanden, von den 60er Jahren an, wo Bäume die Häuser gnädig einbinden bis zu den postmodernen Gebilden, die gnadenlos raus knallen. „Siedlungsbrei ohne Form und Format“, ein Zitat von Dieter Wieland. Eins der Häuser schmückt sich mit jungen Zypressen und einer weißen tibetischen Gebetsfahne. - Unter mir am Hang steht ein Bauernhaus, das zwar gute Maße hat, aber nicht mehr bewohnt und lebendig ist, sondern eine lieblose Ordentlichkeit mit sprossenlosen Fenstern und grauem Verputz zeigt. Nur der alte Ostgarten ist groß und üppig; grad sind die Kirschen dran. Nach weiterem geduldigen Aufwärtsgehen deutet ein Schild die Richtung zum Adelmannschloss und zur Burg Trausnitz an. Na also, jetzt kenn ich mich wieder aus. Und schau an, da führt auch schon eine steile Granittreppe in eine Schlucht hinunter. Es geht immer gradeaus einen schmalen Hohlweg entlang. So schmal, das nur für zwei Leute nebeneinander oder die Hundegassi-Menschen Platz ist, begrenzt durch Bäume und dichtem Buschwerk und einem Staketenzaun, dessen Pfosten mit Hieroglyphen bedeckt sind, einer geheimen Holzwurmschrift. Ein Baum steht nah am Zaun und lockt mit Kirschen. Es sind Weichseln, uuh, können die sauer sein! Wieder bergauf kommt etwas Besonderes: Man kann an einem bäuerlichen Haus durch ein vergittertes Fenster in ein kleines, dämmriges Heiligtum schauen: Spätgotisches Schnitzwerk umrahmt eine schwarze Muttergottes mit ihrem Kind, die bekannte Altöttingerin. Auf der einen Seite zeigt ein fast menschengroßer, geschnitzer Herr Jesus sein Herz, links macht es ihm seine Mutter nach. Ein wenig Licht fällt aus einem kleinen Fenster auf drei Kruzifixe, die mit Spinnwebschleier verbunden sind. In der Mitte steht eine große Vase mit Pfingstrosen, von denen rosarote Blütenblätter auf den Ziegelfußboden gesunken sind. Als ich die Augen wieder ans strahlende Tageslicht gewöhnt hab, lese ich auf einem Schild den Namen des Hohlwegs, durch den ich gerade gegangen bin: Schönfüßlgasse. So ein netter Name! Jetzt aber gleich ins nächste Gasserl getaucht und hinunter geht’s zu Maria Brünnl. Am moosigen Geländer kann man sich einhalten, denn der Kiesweg ist steil und feucht, von Ahorn und Haselnuss beschattet.

Vor dem barocken Wallfahrtskircherl in hellem Ocker, weiß abgesetzt, mit einer Zwiebelturmhaube, dem Portal und dem Dach des Brunnenstüberls aus dunkelbraun oxydiertem Kupfer, setz ich mich auf eine Bank, über der eine riesige Kastanie mit ihren jüngsten Sprösslingen nach mir schmeißt. Frisch weht der Wind, plopp, eine kleine Stachelkugel fällt auf den Weg, eine andere bumst aufs Dach der Brunnenstube. Mit dem Pumpenschwengel kann man das Heilwasser stossweise hoch holen. Es ist schön kalt und gut für die Augen. Ja, das ist das Quellwunder, das 1661 mit dem Maria-hilf-Gnadenbild von Passau christlich gemacht worden ist.

Man kann sie im Altarbild bewundern, die schöne Madonna, blumenbekränzt und von einer Horde Babyengerln eingerahmt. An den Wänden hängen Vorivtafeln: Maria hat geholfen. Manche zeigen auf schwarzem Samt in Silberblech getriebene Rösser und Hände, anderswo sind es Arme, Beine, Busen und Augäpfel, eben alles was weh tut, wenn’s krank ist und der Verlust nicht zu verschmerzen wäre. Auf und vor dem Seitenaltar stehen Votivkerzen in dicken Bündeln stehen. Ja, alles stimmt für eine wie mich, die mit der Großmutter im oberbayerischen Pfaffenwinkel mit dem Radl zur Hardtkapelle zum Wallfahren fuhr. Da ging’s auch berauf und bergab und einmal hat’s mich bös geschmissen, Händ und Knie blutig aufgeschürft mit Steinchen drin. Es hat gebrannt und gepocht, aber wieder daheim, hat mich die Oma mit ihrem Johanniskrautöl verarztet und bald war’s wieder gut, so nach drei Tagen Regen und Schnee.

Ein Pfad führt von Maria Brünnl bergab, der Blick gleitet weit über Äcker, Felder und Wiesen bis zu den Waldrändern, die hügelweis hintereinander gestaffelt sind. Wenn man dem Pfad folgt, kommt man zur Kirche in Salzdorf, auf deren Altar stehen die drei bayerischen Madln: d’Kathl mit’m Radl, d’Margret mit’m Wurm und Barbara mit’m Turm. An einer Wand sind die vierzehn Heiligen gemalt, eine/r schöner und hilfreicher wie die andern.

Ein kurzes Stück geht’s noch zur Wirtschaft, wo es den guten niederbayerischen Schweinsbraten gibt. Man hört und riecht auch manchmal, woher er kommt, nämlich aus dem Stall. Aber hinter dem Haus sitzt man, windabgeschirmt, auf einem schönen, samtgrün gepflegtem Rasen unter Apfelbäumen und bestellt sich zum Trinken ein leichtes Weißbier bis das Essen kommt. So schön kann eine Wallfahrt sein, am Sonntag. 

Man kann’s aber auch eine Nummer kleiner und am Werkstag haben. Da geh ich zur Würstl-Susi. Sie hat ihren Würstelstand unter den Arkaden in der Altstadt vor siebenundzwanzig Jahren übernommen. Davor haben ihn ihre Großeltern gehabt, sagt sie, und noch davor ihre Urgroßeltern. Das ist sozusagen eine Würstlstand-Dynastie. Die Susi hat zwei Sorten Würstl im heißen Kessel: Wiener und Weiße. Die Weißen sind eine Landshuter Spezialität, ähnlich wie die Münchener Weißwürst, aber besser, finde ich, und dünner und kleiner. Dazu gibt’s süßen Senf, von dem sie täglich an die drei bis fünf kleine Küberl braucht. „Des kimmt ganz drauf o.“ Auf was, aufs Wetter? Wahrscheinlich. Die Würstl-Susi steht auch im Winter da, das Gesicht von der Kälte gerötet, im dunkelblauen Anorak gepolstert wie am Nordpol. Grad, dass der Senf nicht einfriert. Bei Regen und Wind  oder anderem widrigen Wetter zieht es gehörig zwischen den Arkaden. Gut warm und dampfig kann’s auch werden, dass man fast keinen Appetit auf Würstel hat. Viele sitzen dann visavis in der Eisdiele und ziehen sich dort ihre Kalorien rein.

Einer Alter, der mit dem Rolator vorbei schäpst, ruft: „Ich liebe dich, Susi!“ Ich frag warum. Weil sie ihm jeden Tag zwei Euro gibt, damit er ins Café gehen und einen Kaffee trinken kann. „Das tut er so gern“, sagt die Susi. Ich erfahre, dass er jeden Tag mit dem Bus vom Hofberg runter kommt, wo sie ein Altersheim haben. Mir kommt es vor wie eine Bewahranstalt für die Alten und Gebrechlichen. Wer von denen traut sich denn, dem Busfahrer jeden Tag zuzumuten, seine Plattform runter zu lassen, oder über die hohen Stufen in den Bus zu steigen, sich geschwind, geschwind auf einen freien Platz zu setzen, bevor er mit Karacho um die Ecke kurvt und die Schwerkraft sogar junge Menschen in die Schräge zieht. Er tut’s, der alte Mann mit dem Rolator, er ist ein Held und die Würstel-Susi seine Gönnerin für’s tägliche Abenteuer. Die Leute am Stand sind sich einig, dass manche Busfahrer doch rechte Büffel seien.

Neue Kundschaft kommt: ältere Frauen aus den umliegenden Orten mit großen Einkaufstüten, die noch Zeit haben, bis ihr Bus kommt, shoppende Ladys, junge Mütter mit Buggis, hungrige Beamte, Arbeiter und Handwerker. „Wie immer?“ fragt die Susi, und häuft z.B. zwei Paar Wiener auf den weißen Pappendeckel, gibt einen anständigen Klecks süßen Senf dazu und legt eine Breze auf das immer wieder sauber gewischte Edelstahl-Buffet. Oder ein Schuberl, wie hier die roggende Sauerteigsemmel heißt. Man kann auch ein Limo haben, ein Bluna oder Cola. Das trinken meistens die jungen Burschen. Und die Kundschaft der Zukunft sitzt unten auf großen leeren Senfeimern an einer niederen Ablage des Buffets. Manchen Mütter ziehen die Haut von der Wiener und blasen fest, damit sich der Nachwuchs nicht das Goscherl verbrennt. Aufgewachsen sollte man in Landshut sein, nicht, damit man bei der Landshuter Hochzeit mitspielen darf, sondern damit man am Stand der Würstl-Susi von Anfang an dazu gehört.

 

 

Erschienen in Niederbayern, Ein ReiseLeseBuch, herausgegeben von Hubert Ettl, 2013 Viechtach, lichtung Verlag edition

 

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