1. Carlina will Katze werden

 

 

Herr König liest beim Frühstück die Zeitung. „Hör mal, Darling!“, sagt er zu seiner Frau. „Hier ist eine interessante Annonce: ‚Kinderfrau sucht neue Aufgabe in Familie mit Niveau.‘ Genau das sind wir: Eine Familie mit Niveau. Und eine Kinderfrau für unser Carlinchen, meine Prinzessin, ist genau das Richtige während unserer Reise. Kümmere dich drum, Darling! Ich muss jetzt zur Vorstandssitzung.“ Herr König verläßt das Frühstückszimmer.

 

Richtig, unserer Reise, denkt Frau König. Wir haben doch diese Insel gebucht. Ein absoluter Geheimtipp. All inclusive und so günstig. Ich müsste mich natürlich dauernd um das Kind kümmern. Hm, das wird schwierig. Und das Klima: absolut nichts für ein Kind.Tja. Eine Kinderfrau soll für Carlinchen sorgen und mit ihr hier bleiben.

 

Frau König antwortet auf die Annonce. Eine Woche später stellt sich ein Mädchen mit schrägen Augen und schwarzen Haaren vor. Sie trägt ein schmales, rotes Seidenkleid, auf dem weiße Chrysanthemen blühen und verbeugt sich höflich.

Sehr chinesisch, denkt Frau König. Chinesen sind ja bekannt für ihre gute Manieren. Carlina könnte davon profitieren. Sie bräuchte dringend ein bisschen Benimm.

„Ich bin Lucy Ling, die neue Kinderfrau“, sagt das Mädchen. „Wo ist es?“

„Was?“, fragt Frau König.

„Das Kind.“

„Oh, das Herzchen schläft noch“, antwortet Frau König.

„Dann werde ich es wecken“, sagt die neue Kinderfrau.

„Nein, nein“, ruft Frau König. „Das Kind braucht seinen Schlaf. Ich bin seine Mutter und weiß das. Wirklich.“

Da geht die Tür auf und Carlina stolpert im Schlafanzug herein. Ihre Haare sind strubbelig und der Mund weit aufgerissen. „Morgen“, gähnt sie.

„Es heißt Guten Morgen, Mamá!“, sagt Lucy Ling. „Und man hält sich beim Gähnen die Hand vor den Mund.“

Carlina ist verblüfft. „Wer isn die da?“

„Deine neue Kinderfrau, Herzchen“, sagt Frau König nervös.

„Echt?“ Carlina kann‘s kaum glauben. Sie setzt sich an den Frühstückstisch. Ihre Mutter legt ihr ein Butterhörnchen mit Schokofüllung auf den Teller.

„Zu fett“, entscheidet Lucy. Sie nimmt das Hörnchen von Carlinas Teller und verspeist es.

„Mami!“, schreit Carlina empört. „Darf die das?“ 

„Das frage ich mich auch, Herzchen“, erwidert Frau König.

„Das muss ich sogar“, sagt Lucy Ling. „Schließlich sind Schokohörnchen Gift für pummelige Kinder. Ich bin nicht nur Erzieherin, sonder auch Ernährungsfachfrau. Außerdem habe ich ein Diplom in Animal-Metamorphosen-Rückführung.“

Frau König ist verwirrt. „Ich hatte ja keine Ahnung von moderner Kindererziehung. – Oh, ich bin schon wieder so spät dran. Ich muss zum Shoppen.“ Sie knuddelt und küßt Carlina, die dabei ganz steif wird, dann winkt sie Lucy Ling zu. „Sie sind angestellt. Über Geld reden wir später. Tschüüüss!“ Und fort ist sie.

Jetzt sind Carlina und ihre neue Kinderfrau alleine.

„Ich mag dich nicht“, faucht Carlina.  „Geh. Geh weg. Chchch!“

„Wie eine Katze“, sagt Lucy Ling. „Du bist wie eine Katze.“

 

Carlina hat sich schon oft vorgestellt, wie es ist, eine Katze zu sein. Keine Prinzessin für Papa, auch nicht Mamas Herzchen. Nicht mal sie selbst. Nur Katze. Eine Katze kann rennen und springen und tun, was sie will. Was einer Katze nicht passt, das läßt sie einfach bleiben. Sie gehorcht nicht, so wie ein Hund. Eine Katze ist frei. Und überhaupt: Sie läßt sich nicht knudeln und küssen. Sie schmust nur, wenn  sie mag. Und wenn nicht, Krallen raus und chchch!

 

„Bitte, geh ins Bad!“, hört Carlina Lucy Ling sagen. „Zähne putzen, Waschen, Kämmen, Anziehen.“

„Mami hilft mir immer“, sagt Carlina.

„Ich nicht“, sagt Lucy.

„Wieso?“

„Du kannst es“, sagt Lucy freundlich. „Alleine.“

„Weiß nicht“,  murmelt Carlina und schlurft davon. 

Als Lucy Ling nach einer Weile nachsieht, hockt Carlina im Kinderzimmer vor dem Fernseher. Im Schlafanzug und mit derselben Strubbelmähne wie zuvor.

Lucy Ling schaltet den Fernseher aus. „Carlina, ich bin deine neue Kinderfrau, und du tust bitte, was ich dir sage.“

„Nein, du tust, was ich sage“, schreit Carlina. „Mach die Glotze wieder an!“ Sie biegt ihre Hand zu einer Kralle und schlägt nach Lucy. „Chchch.“

„Aha“, sagt Lucy Ling und verschränkt ihre Arme. „Du willst also wirklich eine Katze sein. Carlina Katze.“

„Ja, das möchte ich“, schreit Carlina. „Ganz genau.“

 

„Komm mit!“, sagt Lucy. „Wir gehen spazieren.“

„Ich hasse Spazierengehen“, zischt Carlina. 

„Dann geh ich eben alleine“, meint Lucy. „Ich weiß wo ein neuer Eissalon aufgemacht hat.“

Jetzt will Carlina doch mitgehen. Eis, sie liebt Eis: Maracuja, Kiwi, Pistazie, Schoko und Kirsch.

Bald trottet sie neben Lucy Ling den Gehsteig entlang. Es ist eine feine Gegend, in der die Königs wohnen. Mit schönen Villen, alten Bäumen, Hollywoodschaukeln und Swimmingpools.

„Sind wir bald da?“, fragt Carlina.

Langsam ändert sich die Gegend, sie wird ein bisschen schlampig. Hier ist ein leeres Grundstück mit Brennesseln, dort eine Deponie mit rostigen Tonnen und dann kommt ein Parkplatz, auf dem Glasscherben glitzern. Am Rande steht ein kleiner, runder, bunter Wohnwagen.

„Voila“, sagt Lucy, „der Eissalon.“

Carlina staunt. Dieses verbeulte, bunte Ding? Hinter der Theke steht der Eisverkäufer. Er hat eine spitze Nase, eine weiße Schiffchenmütze sitzt ihm schräg auf den roten Haaren. Auf seinem schwarzes Shirt steht ‚Lärrys fliegender Eissalon‘.

„Maracuja, Kiwi, Pistazie, Schoko und Kirsch“, verlangt Carlina.

Aber der Typ hört gar nicht. „Lucy Ling“, ruft er. „Wie schön, dich wiederzusehen.“

„Lärry Löffelstiel“, lächelt Lucy. „Wie geht’s? Hast du wieder eine neue Eissorte erfunden?“ 

„Ja“, sagt Lärry Löffelstiel. „Rosen, Roseneis, nur für dich. Außerdem Eis mit Pfefferminzegeschmack, Pizza-Eis, grünes Tomateneis und Weißwursteis mit oder ohne süßem Senf.“

„Ich will Maracuja, Kiwi, Pistazie, Schoko und Kirsch“, sagt Carlina laut. Noch nie hat sie etwas nicht gleich bekommen.

Lärry Löffelstiel grinst. „Hallo, du bist wohl Lucys neuer Fall, oder?“

„Carlinchen ist mein Schützling“, sagt Lucy Ling ernst.

„Ich will jetzt mein Eis“, schreit der Schützling und stampft auf den Boden. „Und zwar sofort: Maracuja, Kiwi, Pistazie, Schoko und Kirsch.“

„So, so“, sagt Lärry Löffelstiel. „Sonst noch was?“  Carlina kann nur den Kopf schütteln. Niemand spricht ein Wort. In die Stille hinein sagt Lucy: „Carlina will Katze werden.“

 

„Na, dann ist ja alles klar“, sagt Lärry und lacht. „Du brauchst Metamorfosa-Eis.“

Er füllt eine Waffeltüte mit einer cremfarbenen Eiskugel und überreicht sie Carlina. „Bitte sehr, junge Dame.“ Carlina ist enttäuscht. Nur eine Kugel. Sie schleckt. Es schmeckt nach Fisch, ääh ... Seltsam, plötzlich liebt Carlina Fischeis. Es ist wundervoll. Ihre Zunge wird rauh, sie spürt spitze Zähne im Mund. Ihre Hände werden pelzige Tatzen mit Krallen. Carlina verwandelt sich. Sie schrumpft und wird katzengroß. Miau, das Eis! Es liegt am Boden. Gierig schlabbert Carlina auf allen Vieren den Rest. Nun wächst das Fell. Ah, Carlina ist glücklich. Jetzt bin ich eine Katze, denkt sie. Wow-miau. Sie dehnt sich wohlig, springt auf die Theke und spaziert an den Eissorten entlang. Lucy Ling streicht ihr übers Fell. Das tut gut. Carlina Katze schnurrt.

  

Zurück